ADHS – Das gibts doch gar nicht

Immer wieder begegne ich Menschen, aber leider auch oft Behandlern, die behaupten, dass ADHS eine Modeerkrankung sei. Ich habe schon leitende Psychotherapeuten sagen hören, dass es an zu viel Cola und zu wenig Sport läge und kenne auch Psychiater, die sich weigern diese Erkrankung zu behandeln. Oft hört man die Störung sei eine Erfindung der Pharmaindustrie.

Die erste Beschreibung von ADHS im deutschsprachigen Raum stammt von 1775, verfasst durch Melchior Adam Weikard und ist damit mitnichten eine Erfindung der neueren Zeit. 1978 – 200 Jahre später erst – wird in der ICD-9 die Störung als hyperkinetische Störung, als eigenes Krankheitsbild benannt. Und erst ab 1995 ist bekannt, dass diese Störung bis ins Erwachsenenalter erhalten bleiben kann.

Andere wiederum behaupten, dass es die Störung vielleicht gäbe, aber sie viel zu häufig dignostiziert werde, Ginsberg und Kollegen (2014) zeigen, dass das Gegenteil der Fall ist. Gerade unter Erwachsenen und Frauen ist die Störung häufig nicht diagnostiziert, unbehandelt und wird von begleitenden Störungen verschleiert.

Die neurologenetischen Grundlagen der Störung sind sicher nicht erschöpfend erforscht, es ist aber schon einiges bekannt:

  1. Der genetische Einfluss auf das Entstehen der Störung beträgt 70-80% fanden Faraone und Kollegen (2005) heraus.
  2. Die Auswirkungen der Störung auf die (psychische) Gesundheit sind immens, konnten Kessler und Kollegen (2006) zeigen.
  3. ADHS kommt selten allein. Jacob und Kollegen (2007) fanden heraus, dass nur 20% der Betroffenen nur von ADHS betroffen sind. 80% der Betroffenen haben mindestens eine weitere psychische Störung. 40% der Betroffenen haben 3 oder mehr begleitende Störungen.
  4. 200-700 verschiedene Genorte werden vermutet, an denen die Störung kodiert wird. 12 Kandidatengene gelten als gesichert, fanden Demontis und Kollegen (2018).
  5. Simon und Kollegen (2009) finden, dass die Störung in 65% der Fälle bis ins Erwachsenenalter persistiert. In 50% der Fälle partiell, in 15% der Fälle vollständig.

Kurz lässt sich sagen: Viele kluge Menschen beschäftigen sich, mit zum Teil atemberaubendem Aufwand, mit einer Störung, die es nicht gibt – einer Modeerkrankung. Dieses wundervolle Accessoire kommt gleichsam mit sehr ansprechenden Features daher, wie zum Beispiel diesen, die Erskine und Kollegen (2016) gefunden haben:

  • 3-fach erhöhte Wahrscheinlichkeit für Suizidversuche
  • 4-fach erhöhter Wahrscheinlichkeit für Schulabbruch
  • 3-fach erhöhter Wahrscheinlichkeit für Verkehrsunfälle
  • 2-fach erhöhte Wahrscheinlichkeit inhaftiert zu werden
  • 3-fach erhöhte Wahrscheinlichkeit einer frühen Schwangerschaft
  • 4-fach erhöhter Wahrscheinlichkeit einer Kündigung

Und wenn das nicht modisch genug ist, können Kessler und Kollegen (2006) gleich noch ein paar modische Details nachliefern:

  • 3-fach erhöhte Wahrscheinlichkeit an Depressionen zu erkranken
  • 7-fach erhöhte Wahrscheinlichkeit an einer Bipolaren Störung zu erkranken
  • 4-fach erhöhte Wahrscheinlichkeit an einer PTBS zu erkranken
  • 7-fach erhöhte Wahrscheinlichkeit einer Drogenabhängigkeit
  • 3-fach erhöhte Wahrscheinlichkeit einer Substanzabhängigkeit
  • 4-fach erhöhte Wahrscheinlichkeit für Impulskontrollstörungen

Wer wird da nicht neidisch? Um es mal einfach und verständlich zu formulieren: Wer behauptet, dass ADHS eine Modeerkrankung ist, ist nicht nur schlecht informiert, sondern zudem ein empathieloses Arschloch, weil er die zum Teil massiven Lebensbeeinträchtigungen der Betroffenen bagatellisiert, die Stigmatisierung der Störung zementiert und die Kommunikationsbarriere für den offenen Austausch erhöht.

Gerade unerkannte und unbehandelte ADHS im Erwachsenenalter ist ein massiver Risikofaktor für das Ausbilden weiterer psychischer Störungen. Eine Haltung in Form von „ADHS gibt es nicht“ kann man also getrost als unterlassene Hilfeleistung und massiven ärztlichen / therapeutischen Kunstfehler bezeichnen.

Bis heute ist es schwierig, gewillte und geeignete Therapeuten und Behandler zu finden oder auch nur zeitnah eine Diagnosestellung zu erwirken. Daher möchte ich Betroffene, Akteure und Angehörige hier vernetzen. Die ersten Zoom-Sessions würde ich gerne Mitte bis Ende Juni ansetzen. Vernetzt euch Eichhörnchen!


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